Etwas erzählen heisst etwas verständlich machen und eigene Erfahrungen ausdrücken. Was macht eine Erzählung spannend und unterhaltsam? Wo setzen Sie Schwerpunkte beim Erzählen?
Mithilfe von Sprache machen wir Erfahrungen sichtbar und erzählen bedeutet «Verstehen herstellen». Je reicher der Wortschatz, desto stärker formt die Sprache unser Denken und Fühlen – literarische Texte beschreiben das reichhaltige Gefühlsleben. Peter Bieri, Philosoph und Autor von «Nachtzug nach Lissabon» (unter Pseudonym Pascal Mercier). Hier seine Kriterien (nach Wichtigkeit), damit eine Erzählung gelingt:
- Genauigkeit und Echtheit: Bis in alle Details recherchieren, damit die Erzählung «echt» ist. Der Lesende empfindet dann eine Wucht, die ihn in die Erzählung hineinzieht.
- Spannung: Neues oder etwas Bekanntes neu wiedergeben. Hauptziel: Lesende sollen sich in den beschriebenen Erfahrungen wiedererkennen.
- Handlung: Meist wird diese Komponente der Geschichte überschätzt. Sie ist lediglich Instrument, Erfahrung zur Sprache zu bringen.
Gute Erzählungen seien oft intelligenter als ihr Autor, meint Bieri. Weil Bezüge von Lesenden neu erfunden werden können, und die unbewusste Fantasie des Lesenden den Text komplementiert. Fazit: «Literatur ist Bildungserlebnis und verändert den Lesenden». Auszug aus Peter Bieris Focus-Gespräch mit Schweizer Radio DRS.
Ich meine: Es ist ein Glücksfall, wenn sich die Lesenden öffnen. Und dann horchen, welches Echo der Text bewirkt.
Hier fünf Erzählungen (vielleicht als Sommerlektüre) – zwei empfohlen von Peter Bieri (*) und die anderen von mir (Amazon verlinkt):
- Dürrenmatt, Das Versprechen*
- Nabokov, Lolita*
- Haruki Murakami, Sputnik Sweetheart
- Christoph Bauer, Jetzt stillen wir unseren Hunger
- Martin Suter, Lila Lila (perfektes Beispiel Genauigkeit und Echtheit)