Den grossen Monitor angefeuert – Massenerlebnis an der EM

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fansIch hatte es geahnt: Meine Ablehnung gegenüber der Massenbewegung zur Euro 08 würde sich spätestens bei Beginn doch noch in Neugier auflösen. Der samstägliche Abstecher ans Bellevue führte sogar zu einem unerwarteten Public Viewing-Tribünenticket und eifrigem Anfeuern eines Grossbildschirms.

Schon um zwei Uhr war die Stadt seltsam ausgestorben, kaum Verkehr, auch ausserhalb der gerade entstehenden Absperrungen rund um die Fanzonen. Nun, das Wetter war ja auch nicht gerade in Festlaune. Ob alle die Stadt mieden um den erwarteten Massenaufläufen zu entgehen?

Fussgängerfreundlicher Festplatz
Eine Stunde vor Matchbeginn wars unten am Bellevue immer noch ganz gemütlich: Keine Autos, viel Platz für Fussgänger und Velofahrer, überall noch einfaches Durchkommen, kein Gedränge. Die Schweizerfahnen-Umsätze müssen eine enorme Spitze erfahren haben, ganz ohne rot-weisses Deko kam ich mir direkt ein wenig fremd vor. Eigentlich wollte ich einfach mal die öffentlichen Bars und Bildschirme am Bürkliplatz erkunden, doch vor dem Eintritt zur Public Viewing-Arena auf der Sechseläutenwiese schwenkte jemand ein Ticket. Zwanzig Franken wollte Diego dafür, eine Kollegin konnte nicht mitkommen, der Tribünenplatz war zum Einstandspreis zu haben. Das liess ich mir nicht entgehen – nach wenig Schlangengedrücke am Eingang war ich drin. Carlsberg-Bier schmeckt mir nicht, der Cervelat war tiptop.

Die Macht der Masse
Auf der Tribüne ein richtiges Stadionerlebnis: Ein rotweisses Meer von Kindern, Erwachsenen, viele nette Kurzbegegnungen mit vorfreudigen Menschen. Meine Anti-Nationalitäts-Reflexe wurden leicht berührt, als der tschechische Vorsänger zur Nationalhymne ansetzte und die übliche Männer-vor-dem-Kampf-Gesichter-Parade abgefilmt wurde. Brot und Spiele, nationale Symbole, wie kann man so was nur mitmachen. Und dann bei der Schweizer Nationalhymne bin ich auch aufgestanden. Die Schweizer Sängerin hat so strahlend in ihrem rot-weissen Dirndl gesungen, ich habe mitgemacht. Mein Ich hat sich aufgelöst in der Masse.Auch über das aufsteigende Tosen der Menge bei den ersten Bildern der Schweizer Nati habe ich noch gelächelt: Wie kann man nur einen Monitor anfeuern. Wie seltsam wir Menschen doch manchmal sind. Ja, ich war dann am Ende auch ziemlich heiser. Es war ein schöner Ausflug an die EM. Und ich erinnerte mich an die von Elias Canetti beschriebenen Erlebnisse bei seinen Recherchen zum Buch Masse und Macht, hier der Wikipedia-Link.

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Beiträge

  • In der Tat sind die Empfindungen des Schreibers nur in der Optik des Massenphänomens zu erklären. Zu Hause vor dem Fernseher hätten ihn solch ungeahnte Gefühlswallungen mit Sicherheit nicht überkommen. Er hätte es sich nämlich gemütlich auf dem Sofa eingerichtet und wäre erst einmal glücklich gewesen, dass nun alles schon bald ein Ende hat: kein Panini-Bildli-Gezwänge der Kinder, keine ungeahnten Auto-Fähnli-Peinlichkeiten von seriösen Mitbürgern und auch kein als Fussball getarnter Salat im Migros-Gemüsegestell. Ja, sogar sein Lieblings-Radio würde ihn am Morgen bald wieder mit erfrischend anderen Themen wecken. Mit diesem Wissen hätte er sich genussvoll ein Bierli seiner Wahl gegönnt, das mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht Carlsberg geheissen hätte, und dann hätte er endlich den Fernseher eingeschaltet. Bei der Eröffnungszeremonie hätte er sich zwar noch einmal über die Regie geärgert, die den Gesichtern der Herren Blatter, Couchepin, Planini und anderer Berühmtheiten mehr Aufmerksamkeit schenkte als der choreographischen Leistung der TurnerInnen. Dafür hätte er die Wahl dieser gänzlich untypischen Schweizer Sängerin in der Tracht (nicht im Dirndl!!) bestimmt gutgeheissen. Während des Spiels wäre er dann ein paarmal vom Sofa gejuckt – war das jetzt Handspiel oder nicht? – und beim Schlusspfiff wäre er bestimmt ein wenig betrübt gewesen, hatten unsere Jungs doch selten so gut gespielt wie heute. Aber wahre Emotionen, Begeisterung, Euphorie??? Doch, es gab genau einen Moment, der inmitten dieser überbordenden Vermarktungsmaschinerie echte Gefühle zuliess: als Alex Frei weinend vom Platz gebracht wurde. Da blieb auch das Auge unseres marketing-nonkonformen Bierlitrinkers nicht trocken. Wie hingegen von Marcel Bernet treffend bemerkt worden ist: Inmitten der tobenden und johlenden Masse des Stadions wäre bestimmt alles vollkommen anders gewesen …

  • @ursula: danke für die neue perspektive in deiner beobachtung. stimmt. übrigens habe ich dirndl geschrieben weil das ding, das sie anhatte, war ja so ein rot-weiss-verschnitt aus dirndl, tracht, h&m-bluse, ääh ja was könnte ich noch aufzählen? aber ich fand sie wirklich hinreissend, mitreissend. welche hormonelle verzerrungen dabei die um mich stehende masse auslöste – ja, darüber lässt sich canetti auch sehr treffend aus.