Drei gute Gründe gegen Leserreporter

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Leser-Reporter mit Kamera vor zerstörtem HausLeserreporter sind oft die Ersten vor Ort. Sie füttern die Medien mit schnellen, ungefilterten Sensations-Stückchen. Dafür werden sie von Online und Boulevard geschätzt. Eine ungute Entwicklung, finde ich.

Eine blutige Messerstecherei am Bahnhof Bern – kurz zeigt 20min.ch das verstörende Bild Korrektur: 20min.ch entscheidet sich gegen die Publikation eines verstörenden Bildes, trotzdem kursiert es im Netz. Ein tragischer Unfall auf der Europabrücke in Zürich – ein Video auf blick.ch zeigt die Minuten nach dem Aufprall, inzwischen gekürzt und ohne Ton.  Beide Male liefern Leserreporter das Skandalfutter. Ein wichtiger Beitrag zur Arbeit der Medienschaffenden, meint Hans-Jürgen Voigt, Chefredaktor 20 Minuten Online, im Persönlich-Interview. Völlig unnötig, meine ich. Drei gute Gründe gegen Leserreporter:

1. Realität wird zur Unterhaltung: Gaffer und Voyeurismus gehören zu Unfällen und Katastrophen. Leserreporter verstärken das. In einer idealen Welt ist der erste Gedanke bei einem Unfall «Wie kann ich helfen?». In der Realität denkt die schockierte Mehrheit nichts und schaut erstmal. Aber ein Leserreporter fragt sich: «Wie kann ich das verkaufen?» Deutlich zu sehen im Video zum Unfall auf der Europabrücke. Reales Leid wird so beim normalen Passanten zur unterhaltenden Geschichte, über die er zu erst die Medien informiert, statt die Polizei zu rufen und zu helfen. Bei 20 Minuten winkt dem Leserreporter des Monats 1’000 Franken «bar auf die Hand». Im Wettbewerb um die heisseste News erfährt die Polizei manchmal erst durch die Medien von Unfällen und Verbrechen, wie Voigt im Interview bestätigt.

2. Denn sie wissen nicht, was sie tun: Medienrecht ist ein komplexes Feld, in dem sich auch versierte Journalisten manchmal auf dünnes Eis begeben. Gerade Bild- und Video-Aufnahmen sind heikel, tangieren sie doch das Recht am eigenen Bild, Teil des Persönlichkeitsrechts. Im Spannungsfeld zwischen Schutzrecht und Medienfreiheit hat der Presserat einiges zu tun, auch ohne Leserreporter. Welcher selbst ernannter Reporter weiss schon, dass Simonetta Sommaruga nicht im Bikini fotografiert werden darf, weil ihre Ferien nichts mit ihrem Amt zu tun haben – Bundesrätin hin oder her.

3. Schneller, höher, weiter: Leserreporter sind Teil der wachsenden Beschleunigung im Journalismus. Besonders Online-Medien stehen unter massivem Zeitdruck: Hauptsache Erster sein, einfach mal die News hochstellen, die recherchierte Geschichte kommt dann später. Das führt nicht nur dazu, dass aufgeblasene Titel der Leserschaft Geschichten versprechen, die dann nur wenig halten – sondern auch dazu, dass die Medienschaffenden langsam zu Bürogummis werden: Bedient von PR-Fachleuten und Privatpersonen verbringen sie immer mehr Zeit hinter dem Bildschirm, statt draussen im Kontakt mit der Bevölkerung.

Fazit zum Abschied: Das sind nur drei von vielen guten Gründen gegen die Entwicklung des Leserreporters. Gründe dafür wollen mir alle nicht so recht einleuchten. Trotzdem spricht viel für die Teilnahme von Normalbürgern am Mediengeschehen – sei es als interessierte Leserschaft, im Sinne des Public Journalism oder gleich direkt als BloggerInnen.

Mit diesem kritischen Blick auf die Medienlandschaft verabschiede ich mich als Autorin vom bernetblog und freue mich ein letztes Mal über schlaue Ergänzungen und klare Widerworte im Kommentarfeld!

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Beiträge

  • Ich bin der gleichen Ansicht.
    Persönlich erachte ich „Leserreporter“ auch eher als Hindernis für guten Journalismus, da eben das, was der Bürger lesen möchte nicht immer das ist, was der Bürger auch lesen soll.
    Mag auf den ersten Blick verwirrend klingen aber: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Zug, der einen Menschen überfährt. Auch welchem Grund auch immer. Der Leserreporter springt auf, interviewt die Mitreisenden, schießt Fotos des betroffenen und sicherlich geschockten Lokomotivführers und schickt den ganzen Sermon samt Fotos und Text, mit genauer Orts- und Zeitangabe an die Zeitung. Diese druckt den Kram ab.
    Was hätte ein guter Journalist getan: Wenn es sich nicht um einen Unfall handelt, im Zweifelsfalle gar nichts. Denn – auch wenn es schrecklich und tragisch ist – ist im Endeffekt nur interessant, dass der Zug wegen eines Personenunfalls stehen geblieben ist, das eventuell noch jemand verletzt ist und der Lokführer einen Schock hatte.
    Diese Infos bekommen Zeitungen in der Regel aus Polizeimeldungen, und das ist gut so.

    Andere Fälle sind ähnlich gelagert. Da kann der Leserreporter vor lauter Sensationsgeilheit (die leider auch manche Journalisten haben) gar nicht mehr sehen, was er eigentlich genau tut. Nicht helfen, Leute kompromitieren und Dinge festhalten, die relativ irrelevant sind.
    Würde die ganze Welt aus Leserreportern bestehen, dann hätten wir kaum Nachrichten über Politik, aber jeder Fahrradunfall mit abgeschürftem Knie wäre ein gut inszeniertes Foto und eine reißerische, übertrieben Story wert.

    Ich weiß, dass sich hier vielleicht manche in Blogger angegriffen sieht. Aber ich spreche hier nicht von euren eigenen Blogs, sondern von normalen Bürgern, die Sachen an Zeitungen schicken. Gerad die Bild finde ich da ganz schlimm.

  • Der Leserreporter war doch nur der konsequente nächste Schritt bei den ganzen Skandalblättern. Von Journalismus kann ma da schon lange nicht mehr reden. Immer die schnellste und beste Schlagzeile, darum geht es. Daß hier inhaltlich häufig nicht mehr viel rumkommt, ist dabei nebensache, da die meisten Internetnutzer genau diese Art von Unterhaltung haben wollen.

    Artikel die umfangreich recherchiert und mit Quellen belegt sind, erhält man immer weniger. Meist wird auf eine zentrale Quelle verwiesen ohne auch nur im entferntesten die Authentizität dieser genau zu überprüfen.

    So das sind meine 2 Cent dazu.

  • Ziemlich oberflächlich, dieser Artikel.

    Wenn ein Blogger was schreibt und andere das sharen und liken – wo ist da nochmal genau der Unterschied zum Leserreporter??? Alle drei von dir genannten Gründen kann man ebenso gegen Blogger, Twitterer, Facebooker anführen.

    Gaffer und Voyeure sind mies. Und zwar immer. Medienrechtsverstöße ebenso. Das hat aber nichts mit Leserreportern zu tun, sondern damit, dass jetzt im Internet jeder ein Publikum finden kann. Die Guten und auch die Idioten.

  • Die genannten Gruende sind schwer wiegend, aber man sollte auch bedenken, dass z. B. Whistleblowers keine Sensationen und Aktivisten an Krisenherden und Kriegsschauplaetzen keine geniesserischen Fotos verbreiten wollen. Ich denke da an Syrien, Russland und andere. Selbst Agenturen wie AP haben den Wert oder gar die Notwendigkeit von aktuellen Leserbeitraegen erkannt und – wo moeglich geprueft – in ihre Berichterstattung integriert. Teilnahme am Publizieren heute auf Leserbriefschreiben zu beschraenken, ist vielleicht nicht nur elitaer und altmodisch sondern auch unzeitgemaess. Das Publikum ist nicht so dumm, wie Eliten denken moegen und bewirkt eine Bereicherung unseres Kenntnisstandes – natuerlich nachdem es 112 gewaehlt hat.

  • Herzlichen Dank für die zahlreichen Kommentare.
    @nania: Bilder sehe ich ebenfalls als die Hauptschwierigkeit hier.

    @Asi: Der Unterschied zum Blogger scheint mir riesig:
    1. Ein Blogbeitrag frisst Zeit und Geld – ein Leserreporter investiert wenige Minuten und kassiert unter Umständen bis zu 1’000 Franken.
    2. Ein Blogger exponiert sich im Netz und steht mit seinem Namen für seine Beiträge – ein Leserreporter handelt gegen aussen anonym.
    3. Ein Blogger kommt nicht drum rum, sich mit Medien-, Urheber- und Persönlichkeitsrecht zu befassen, sonst droht eine Klage – dem Leserreporter kann das Recht egal sein.

    @bugsierer: Danke, für den spannenden Link. Macht ein Leserreporter schon einen Schwarm? Vielleicht macht die Leserschaft einen Scharm…

    @Jochen Raffelberg: Wichtiges Argument. Völlig einverstanden, dass die Bevölkerung in vielen Fällen wichtiges zu Berichterstattung und Aufklärung beitragen kann. Ganz im Sinne meines Fazits: «Trotzdem spricht viel für die Teilnahme von Normalbürgern am Mediengeschehen – sei es als interessierte Leserschaft, im Sinne des Public Journalism oder gleich direkt als BloggerInnen.»

  • Grundsätzlich finde ich Leserreporter nicht schlecht. Nur dürften Gelder und sonstiges Lob nur an solche fliessen, die nichts Sensationelles liefern, sondern vertiefte Analysen einer Situation. Es gibt diverse sehr gut ausgebildete, erfahrene Fachleute, die zu einer aktuellen Situation in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur oder teilweise auch Sport überdurchschnittlich wertvolle Analysen und Gedankenanstösse/Lösungsansätze oder gar Lösungen liefern könnten. Die müsste man mit Preisen locken. Alles was Sensation ist und unter Unfälle, Verbrechen und dergleichen geht dürfte nur von professionellen Journis auf Plattformen von sich seriös nennenden Presseerzeugnissen publiziert werden.
    Ich kann die Journis ja an den Ort rufen, wenn ich etwas für wichtig halte, aber sollte nicht darüber berichten oder zumindest nur unter dem Namen eines vom Verlag fest angestellten Journalisten. Dann würde dieser das wohl zuerst lesen, bevor der die Verantwortung dafür übernimmt.