«Vom Tipp zur Indiskretion ist es oft ein kurzer Weg»

Indiskretionen, sogenannte Leaks, gehören in der Politik und Medienarbeit zum Alltag – auch in der Schweiz. Wo aber liegen die Grenzen? Brauchen wir Leaks, um Missstände aufzudecken oder schaffen sie ein Klima des Misstrauens? Wie wichtig sind sie für die Kontroll- und Kritikfunktion der Medien? Darüber wurde vorgestern an einer hochaktuellen Podiumsdiskussion der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Bern gesprochen. Bernet Relations war vor Ort.
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Die zielgerichtete Enthüllung vertraulicher Informationen kann für eine Gesellschaft von grossem Nutzen sein – wenn gewisse Parameter berücksichtigt werden. Denn wer vertrauliche Informationen an Journalist:innen heranträgt, verfolgt damit ein klares Interesse: letztlich wollen Diskurse und Entscheidungen beeinflusst werden. Zu diesem Thema diskutierten am 13. März Politikwissenschaftler Claude Longchamp (gfs.bern), Presseratmitglied Casper Selg (ehem. SRF Echo der Zeit) und Bundeshausjournalist Georg Humbel (NZZaS) unter der Moderation von Jürg Steiner (Hauptstadt.be) an einem spannenden und hochaktuellen Podium der Neuen Helvetischen Gesellschaft Bern.

Wie sind Indiskretionen überhaupt möglich?

Beispielhaft für Indiskretionen stehen in jüngerer Zeit die Crypto-Affäre und die Corona-Leaks. Nimmt die Anzahl Indiskretionen zu? Hier ordnet Claude Longchamp ein: «In meinen rund 30 Jahren Erfahrung habe ich beobachtet: Indiskretionen nehmen nicht systematisch zu, sie treten in Zyklen auf». Wie es immer wieder zu Indiskretionen in der Schweizer Politik kommt und welche Voraussetzungen begünstigend wirken, zeigt er in sechs Annäherungsversuchen auf:

  1. Die Regierungsweise: Der Bundesrat regiert nicht im geheimen 7er-Gremium. Entscheide werden im engsten Kreis gespiegelt, Positionen wollen abgesichert und auf Mehrheitsfähigkeit geprüft werden. In diese Prozesse sind bis zu 40 Personen involviert. 40 Personen, die theoretisch als Quelle für Indiskretion in Frage kommen. Bei parlamentarischen Kommissionen dürften es jeweils noch mehr sein.
  2. Konflikte: Je mehr Konflikte bestehen, umso günstiger die Lage für Indiskretionen. Diese dienen schliesslich immer einem Ziel, etwa der Stärkung der eigenen Position oder der Beeinflussung eines Gegners.
  3. Veränderung im politischen Lobbying: Im Bundeshaus wirken verschiedene Interessen auf die Departemente ein. So sind Parteien, Verbände, Interessensgruppen, Lobby- und PR-Agenturen bestrebt, Einfluss auf relevante Player auszuüben.
  4. Veränderungen im Mediensystem: Die Laufbahn von Medienschaffenden läuft längst nicht mehr so linear ab wie früher. Heute ist der fliegende Rollentausch nicht unüblich: vom Journalismus zur Politik oder zur PR-Agentur und wieder zurück. Die daraus entstehenden Netzwerke, das angeeignete Knowhow führen zu einer höheren Interaktion von Politik und Medien.
  5. Lobbying von Aussen: Indiskretionen können auch zum Konkurrenzkampf internationaler Akteure – etwa Rüstungsanbietern – gehören, um sich Vorteile und den Mitbewerbern Nachteile zu verschaffen. Als jüngeres Beispiel dient die Kampfjet-Abstimmung um den F-35 und auf Indiskretionen basierende Medienberichte zu möglichen Seitendeals.
  6. Dauerhafte Beschleunigung während der Pandemie: Die Pandemie und das Notrecht haben eine neue Dynamik entfacht: Regierungsentscheidungen im Stakkato, permanente Kommunikation, bestehende Prozesse griffen nicht mehr. Die Interaktion von Exekutiven und Medien wurde intensiviert und beschleunigt – das begünstigte Indiskretionen.

Die Bedeutung von Indiskretionen im Journalismus

Die Relevanz von Indiskretionen für recherchierende Medienschaffende ist unbestritten. Weniger für jene, die seichte Artikel über ‚Katzenbildli‘ schreiben (müssen), die jeweils für die stärksten Klick-Raten sorgen. Für NZZaS-Journalist Georg Humbel ist klar: «Für meine Arbeit sind Indiskretionen eminent wichtig. Sie sind reizvoll, interessant und im Konkurrenzkampf mit anderen Medienschaffenden ein Vorteil». Indiskretionen seien zu begrüssen, wenn sie dem öffentlichen Interesse dienen. Im Fokus stehe aber immer die Frage «Cui bono – wer profitiert davon?». Nicht jede Indiskretion werde daher auch aufgenommen. Schliesslich wolle er sich nicht instrumentalisieren lassen, er sei Journalist, nicht Aktivist. Für Casper Selg muss auch berücksichtigt werden, unter welchem finanziellen Druck die Medienhäuser heute stehen. Es brauche spannende Primeure, um die Leserschaft für sich gewinnen und sich gegen andere Medien durchsetzen zu können. Indiskretionen können hierzu sehr wertvoll sein. Einen direkten Einfluss solcher Verleger-Interessen möchte Georg Humbel wiederum aus seiner Redaktionserfahrung nicht stützen.

Casper Selg erläutert auch, welche Aspekte es bei der Veröffentlichung von vertraulichen Informationen zu berücksichtigen gelte, denn: «Indiskretion stellt Öffentlichkeit her, aber es gibt Grenzen». Für Medienschaffende seien folgende Punkte zu beachten:

  • Ist die Informationsquelle dem Medium bekannt? Lässt sich der Sachverhalt bestätigen?
  • Ist das Thema von öffentlichem Interesse? (Interesse  Neugier)
  • Tangiert die Veröffentlichung wirklich keine schützenswerte Interessen, etwa Persönlichkeitsrechte oder Aspekte der Landesverteidigung?
  • Gibt es legitime Gründe, mit der Publikation noch zuzuwarten?
  • Handelt die Informantin/der Informant freiwillig (keine Zahlungen, Wanzen, Erpressung o.ä.) und welche Absicht steckt dahinter?

Ein Blick in die Zukunft

Indiskretionen haben eine lange Tradition und werden auch künftig für Aufregung und Schlagzeilen sorgen, je unkonkordanter die Politik, desto stärker. Selten haben sie das Potenzial, eine Regierung zu stürzen wie Deep Throat bei Watergate. Vielmehr gehören sie zum Arsenal politischer Hilfsmittel eines demokratischen Systems. Diese Motivation begründet den fundamentalen journalistischen Abgrenzungsbedarf. «Vom Tipp zur Indiskretion ist es oft ein kurzer Weg» so Claude Longchamp. Wie schnell entwickelt sich ein Tipp unter Bekannten, über ein Hintergrundgespräch hin zur Indiskretion, die die Gemüter erhitzt?

Gleichzeitig fördern Indiskretionen die Transparenz, stellen die für eine funktionierende Demokratie wichtige Öffentlichkeit her und stützen die Medien in ihrer Funktion als vierte Gewalt. Neben sachpolitischen Indiskretionen, die durchaus personelle Konsequenzen haben können, ist aber ein Trend zum negative campaigning zu beobachten. Also dem Bestreben, politische Gegner weniger auf Basis themenbasierter Diskussionen zu schwächen, sondern durch gezielte, personalisierte Angriffe, wie man sie aus dem Politikalltag der USA kennt – mit beunruhigendem Vertrauensverlust in Politik, Medien und öffentlichen Institutionen. Noch ist man in der Schweiz nicht so weit, obwohl die spürbare Zunahme der Personalisierung in der politischen Kommunikation dem Vorschub leisten könnte. Nach wie vor geniessen hierzulande Regierungs- und Medieninstitutionen ein vergleichsweise grosses Vertrauen.

Aus Sicht von Medienschaffenden bleibt die politische Unruhe im Bundesrat jedenfalls durchaus belebend für Indiskretionen. Wir bleiben gespannt!

Weiterführend:

Im Bernetblog:

Foto von Hansjörg Keller auf Unsplash

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