Der Zufall und die Filter Bubble: Miriam Meckel zur digitalen Berechenbarkeit

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Miriam Meckel ruft auf zur Rettung des Zufalls. Hat er keine Chance gegen die Filter von Webseiten und Suchmaschinen? Wichtig ist, dass wir diese Filter kennen, sie einstellen können – und das digitale Aquarium hie und da verlassen. 

«Rettet den Zufall!» – eine brillante Schlagzeile, die mich gleich in Beschlag nimmt. Gestern prangte auf der letzten Seite der Neuen Zürcher Zeitung, die ich mir wie üblich zum Frühstück gönnte. Es war kein Zufall, dass ich diesen Artikel fand. Die Begegnung gründet auf einem von mir persönlich programmierten Algorithmus: Ich lese die NZZ, weil sie den für mich am besten gefilterten Informationsmix bringt. Ich lese jeden Dienstag die Medien-Seiten, weil die mich besonders interessieren.

Wichtig zu wissen: Wo werden wir berechnet?
Miriam Meckel (Wikipedia) befürchtet ein tödlich langweiliges Leben dank unserer Berechenbarkeit im digitalen Raum. Je mehr wir uns im Netz aufhalten, desto mehr lernt es über uns, unsere Freunde, Lieblingsmusik, bevorzugte Ferienorte, Lektüre und Suchbegriffe. Die Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen thematisiert einen Sachverhalt, der auf jeden Fall Aufmerksamkeit verdient.

Wenn ich auf Google etwas suche, erhalte ich nicht dieselben Links, wie eine andere Person. Die Resultate sind angepasst auf frühere Sucheingaben und weitere im Internet verfügbare persönliche Daten. Facebook filtert Meldungen von Freunden oder Werbung angepasst auf mein Profil; Seiten, die ich mag; Dinge, die meine Freunde mögen. Xing und LinkedIn schlagen uns Kontakte vor, iTunes und Amazon Musik oder Bücher – immer basierend auf über uns vorhandene Daten.

Wichtig ist, dass wir das alle wissen. Dass es uns gesagt wird. Zu wünschen bleibt, das wir das ein- und ausschalten können. Der Online-Campaigner Eli Pariser beschreibt das Phänomen in «The Filter Bubble», sein TED-Vortrag verdichtet die Kernthesen auf neun Minuten.

Nichts ist neutral, auch das Internet nicht
Für die Autorin verändert das personalisierte Internet unser Weltbild und uns selbst. Unter anderem, weil das Web nicht neutral sei und uns «zu Werkzeugen der Online-Werkzeuge» mache, die «auf die Geschäftsziele der Internetkonzerne oder die Weltbilder von Interessengruppen ausgerichtet sind».

Wieso soll das Internet neutral sein? Da tobt ein Kampf um Meinungs- und Marktanteile. Genau so, wie wir ihn aus öffentlichen Debatten, Zeitungen, Fernsehen, Radio kennen. Papier verliert seine Neutralität, sobald es bedruckt ist. Leser und Surfer gehen dort hin, wo sie das bekommen, was sie wollen. Wichtig ist, dass wir uns immer wieder darüber klar sind, welche Absichten ein Verlag, eine Suchmaschine, ein Soziales Netzwerk, ich als Blogger oder Miriam Meckel als Autorin verfolgen.

Das Problem ist das scheinbar Neutrale. Absichten werden verdeckt. Filter eingebaut. Die Unübersichtlichkeit und die Flexibilität des Web stellen neue und erhöhte Anforderungen an unsere Medienkompetenz.

Der Zufall setzt sich durch
Miriam Meckel hat ein neues Buch geschrieben, welches das Thema in einer Science-Fiction-Erzählung aufnimmt. «NEXT» dramatisiert gemäss ihrer eigenen Beschreibung im Interview mit FAZ-Online die Entwicklung hin zu einer durch und durch berechneten Zukunft, die ohne uns Menschen auskommt. Diese Überspitzung kann dazu dienen, unser Bewusstsein für die tatsächlich ablaufenden Veränderungen zu schärfen. Aber in der Realität sehe ich keine Auflösung unserer Identität im digitalen Gefängnis der Berechenbarkeit. Und der Zufall wird sich immer seine unberechenbaren Wege zu uns bahnen. Oft dort, wo wir ihn gar nicht mögen. Ich lese die düsteren Thesen der Autorin auch als Aufforderung, ein Leben ausserhalb des Digitalen zu führen und zu pflegen. Dazu sendet mir der Zufall meiner Erinnerungen gerade einen Dialog aus der Vor-Web-Zeit, ersonnen von Friedrich Dürrenmatt für seine Physiker: «Je planmässiger wir vorgehen, desto härter trifft uns der Zufall.»

Wir brauchen eben beides – Zufall und (vermeintliche) Berechenbarkeit. Wichtig ist, dass wir in Zukunft mehr Kontrolle und Transparenz über die uns digital zugemutete Vor-Selektion erhalten.

Übrigens arbeitet Bernet_PR für Google und ich freue mich auf das Treffen mit Miriam Meckel an der HSG Master Class.

Original-Artikel von Miriam Meckel auf NZZ Online
NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns
The Filter Bubble: What the Internet is Hiding from You
Kontrolle über den Webverkehr: Netzneutralität – n’existe pas
Klickpotenzial als Geschichtenfilter: Medien zwischen Klicks und Qualität

 

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Beiträge

  • Wenn uns google und Facebook die Vorauswahl treffen, das scheinbar wichtige und unwichtige trennen, ist es, als würden wir das Unterbewusstsein ausschalten.

  • Sicher ein wichtiges Thema – jedoch wohl in erster Linie für ganz eifrige Netz-Bewohnerinnen und -Bewohner!

    Cass Sunstein schrieb bereits 2001 sehr treffend in „Republic.com“ über die Echokammern des Internets: „See only what you want to see, hear only what you want to hear, read only what you want to read.“

    Ich bin gespannt, demnächst „NEXT“ zu lesen, denn bestimmt ist es wieder rasend gut und kreativ geschrieben. Ein bisschen befürchte ich jedoch, dass sich die inhaltliche Substanz des Buches auf die Echokammer-Sache und die zu vielen persönlichen Daten im Netz beschränkt. Man überzeuge mich vom Gegenteil!

  • @ Gabriela: Seit Jahrzehnten zwingt uns die Info-Flut, unsere Aufmerksamkeitsfilter zu schärfen und enger zu setzen. Schön, wenn ich selbst an dieser Schraube drehen darf – oder wenigstens weiss, was andere für mich filtern.

    Spannend übrigens: Auch die NZZ filtert für mich. Bloss ist halt hier der Filter nicht digitalisiert, deshalb nicht ein-, ausschaltbar oder transparent zu machen.

    @Sarah: Ich liebe es ja auch, wenn ich dort, wo ich steuere, das bekomme, was ich will. Das ist die eine Richtung des Lebens: Ich gehe (vermeintlich) gezielt auf ein Geschäft, eine Person, ein Quartier, ein Newsmedium zu – und will dort das fnden, was ich gerade suche. Und da funkt dann der Zufall immer dazwischen, die Überraschung. Auch im Internet. Da sehe ich so viele Dinge in Newsletter-Abos, Twitter-Streams oder eben solchen Kommentardialogen, die ich gar nicht erwartet habe.

    Da fällt mir Pablo Picasso ein: «Ich suche nicht, ich finde.» (Volles Zitat: http://goo.gl/ZrgTw)