Es ist zugegebenermassen irrwitzig aktuell etwas zu Twitter zu sagen, denn heute Abend kann bereits alles anders sein. Hier dennoch unsere ‚two cents’.
«The Bird is Free»
Als der exzentrische Tech- und Tesla-Tycoon Elon Musk vorletzten Freitag Twitter kaufte, gingen die Wogen hoch. Das Top-Management wurde gespickt, über 3’700 Mitarbeitende grösstenteils per E-Mail entlassen. Dies betraf allen voran jene, die für die Einhaltung von Community-Regeln und die Bekämpfung von Fake News, Hate Posts usw. zuständig waren. Mitten in einem globalen Informationskrieg zwischen latent und offen kriegsführenden Parteien kein unrelevanter Entscheid. Elon Musks postwendendes ‘Endorsement’ der Republikaner kurz vor den U.S. Midterm Elections sorgte für weitere Beunruhigung. Der neue Herrscher über die Plattform-Algorithmen lässt befürchten, dass Twitter punkto Meinungsbildung und Informationsverbreitung vor Instrumentalisierung nicht gefeit ist. Für viele User, die über Jahre ihr soziales Netzwerk aufgebaut haben, ein Grund zur Panik.
Cowboy-Style in der Systemrelevanz
Während libertäre Kreise dem Unternehmer Musk bereits seit PayPal und Tesla mit einem irritierenden Personenkult huldigen, wird er von Kritiker:innen zunehmend mit allerhand Ferndiagnosen pathologisiert. Dass Twitter-Besitzer Musk seit der Übernahme weiter seriell und im Cowboy-Style aus der Hüfte tweetet ist gelinde ausgedrückt speziell. Schillernde und schrille Unternehmer hat es immer wieder gegeben, doch kaum je waren sie Besitzer eines der mächtigsten Informationsmedien der Welt. Dass der CEO private Meinung und unternehmerische Aussenpolitik dermassen vermischt ist nicht nur aus Public Affairs-Perspektive gefährlich.
Musks Umgang seit der Twitter-Übernahme wirkt auf unsere Informationsgesellschaft disruptiv. Die Rolle von Twitter in der öffentlichen Meinungsbildung und besonders in Politik und Medienwelt ist dermassen relevant, dass für EU-Parlamentarier Grund genug besteht, ihn zu einem Hearing vorladen zu wollen und Twitter regulativ neue Grenzen zu setzen.
Musks Handlungen, kombiniert mit der Macht von Twitter, erfüllen dermassen viele Newswert-Kriterien (Konflikt, Kuriosität, Prominenz, Sensationalismus, usw.), dass seinen Äusserungen und Botschaften auch in klassischen Medien exzessive Präsenz garantiert ist.
Erkaufe dir deine Glaubwürdigkeit
Wurde Twitter – trotz Hetze und Nihilismus – bisher als Plattform für ungehörte Stimmen (Stichwort: Iran 2022, ‘Arabischer Frühling’ 2010) gefeiert, werden neue kostenpflichtige Parameter dem ‘Hort der Meinungsfreiheit’ Abbruch tun. Twitter ist selbstverständlich kein karitatives Projekt. Neben Einnahmen mit ‘big data’ und ‘paid content’ wird nun das heiss begehrte blaue Häckchen für verifizierte Accounts von öffentlichem Interesse (Medienschaffende usw.) für 8$ pro Monat verscherbelt – Glaubwürdigkeit feilgeboten. Als Folge dieses Systemwechsels sind unzählige Fake Accounts mit Credentials entstanden und haben bereits massiven wirtschaftlichen Schaden angerichtet (wie bspw. beim Insulinhersteller Eli Lilly).
Viele Durchschnitts-User stellen aber auch direkt in ihrer Community Veränderungen fest. Berichte häufen sich, dass jeweilige Followerzahlen abrupt schrumpfen oder dass vermehrt kontroverse (bisweilen auch rechtsextremistische Inhalte) Inhalte im Feed auftauchen, dafür favorisierte Accounts kaum mehr auftauchen. Für viele Menschen – insbesondere intensive Twitter-Nutzer:innen – sind aktuell genug Gründe vorhanden, Twitter zu verlassen. In den nächsten Wochen wird sich daher zeigen, ob User, Investoren und werbeschaltende Unternehmen Twitter weiterhin vertrauen.
Plan B?
Neben herzerwärmenden Katzenportraits oder Emu-Soaps darf die Rolle Twitters in der Schweizer Politik-Medien-Arena nicht unterschätzt werden. Jede Persönlichkeit und Organisation, die etwas auf sich gibt, ist präsent. Twitter ist aber ganz generell für Medien und Öffentlichkeit als Erstpublikationsmedium für News-Meldungen und für OSINT unerreicht. Und dank der globalen Anbindung an Diskurse über Hashtags und Trends. Sollte Twitter also wegfallen, hat dies auch hierzulande einen grossen Impact.
Viele User sind nun auf der Suche nach Alternativen. Mastodon wird als nächstbessere Option angepriesen, wobei die Erfahrungen noch sehr durchzogen sind (Server-Wirrwarr, Zersplitterung von Communities, technische Kinderkrankheiten usw.). Das hat einerseits mit der gewollten Ausrichtung der Plattform als Fediverse zu tun. Anderseits wurde Mastodon in den letzten Wochen überrannt und kann sich weiterentwickeln. Was nun?
Unsere Empfehlung:
- Lage beobachten, Fallschirm bereitstellen: Es besteht ein manifestes Risiko, dass Twitter in den nächsten Wochen keine geeignete Plattform für dich, dein Unternehmen oder deine Organisation mehr ist. Aber Totgesagte leben bekanntlich länger. Bespreche vorsorglich ein Absturz-Szenario intern im Unternehmen, in der Organisation, in deinem kommunikativen Netzwerk.
- Sichere deine Daten: Hole deine Daten von Twitter per Download (auch über externe Bezahlmöglichkeiten machbar). Erstelle eine eigene Liste oder Datenbank (Excel-Sheet bis Adressdatenbank) mit den Meinungsführer:innen, Stakeholder, User usw., die für dich oder deine Organisation relevant sind und führe alternative Social Media Handles ausserhalb von Twitter auf.
- Alternativen: War Twitter für dich bisher dein einziger Kanal? Arbeite an einer Diversifikationsstrategie. Erkunde neue Plattformen wie bspw. Mastodon. Füge deinen neuen Handle in deine Twitter-Bio ein. Deine Follower können sich so bereits mit dir neu vernetzen. Auch hier gilt der wichtige Grundsatz: keine Social Media Plattform (von YouTube bis Meta) gehört dir oder deiner Organisation. Dieser Vorsichtsgedanke sollte Teil jeder Corporate Communications-Überlegung sein.
Weiterführend:
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