Journalist:innen im Web: Matthias Schüssler, Redakteur Digital und Gesellschaft bei Tamedia

Über Social Media vernetzt sich Matthias Schüssler mit seiner Tech-Bubble und recherchiert Themen und Kontakte. Wehmütig blickt er auf die veränderte Rolle von X (Twitter) und beobachtet die Entwicklungen auf den neuen Kanälen.

Die Serie «Journalist:innen im Web» porträtiert Journalist:innen und ihren Alltag im Social Web im Rahmen einer qualitativen Studie von Bernet Relations und der ZHAW. Die Zusammenfassung und Auswertung der Studie erfolgt (bereits zum vierten Mal nach 2015, 2017 und 2019) im Frühling 2024. Der Hashtag zur Studie: #jstudie24.

«Seit Twitter – ich kenne zwar den neuen Namen, verwende aber aus Nostalgie und einer Trotzhaltung heraus weiterhin den alten – nicht mehr so wichtig ist, hat sich meine Social-Media-Nutzung verzettelt», sagt Matthias Schüssler im Gespräch. Der Journalist schreibt für Tamedia, hat einen eigenen Blog und ist Radiomacher auf www.nerdfunk.ch, einem Format beim Winterthurer Radio Stadtfilter. In seinem Alltag als Tech-Journalist ist Social Media wichtig, weil er sich damit einen Nachrichtenüberblick verschaffen und die Stimmungslage prüfen kann. «Ich nutze Social Media beruflich und privat sehr viel. Es ist für mich Arbeitsinstrument und Unterhaltung.» Er habe da auch seine Bubble, mit der er gerne interagiere, und bedauert klar die Veränderung bei X (Twitter). «Ich denke, dass Twitter aus historischen Gründen noch relevant ist, obwohl die guten Wortmeldungen klar seltener geworden sind.» Einen direkten Ersatz gäbe es noch nicht: «Ich beobachte, dass sich die Diskussionen auf mehrere Plattformen verteilt haben und LinkedIn wichtiger geworden ist.»

Medienkompetenz-Mechanismen sind gleich geblieben

Bei der Recherche spielen Social Media in verschiedenen Momenten eine Rolle. So lässt sich Matthias Schüssler entweder für Geschichten inspirieren oder kontaktiert Personen via Direktnachricht oder öffentlicher Ansprache. «So erreiche ich Leute einfacher, als wenn ich mir die E-Mail-Adresse organisieren muss.» Social Media veränderten aber klar die Recherche. Wenn ein Thema brennt, muss man schnell sein und darf nicht erst ein paar Tage warten und recherchieren. «Aber Social Media bildet die Realität nicht direkt ab. Was hier Aufruhr verursacht, kann in der Realität weniger oder keine Rolle spielen.» Deshalb müsse man sich klar abgrenzen. Matthias Schüssler ist immer noch ein Verfechter von guten RSS-Readern. Um nichts zu verpassen, brauche es immer noch gezielte Recherchen und Quellen wie klassische News-Websites und grosse Blogs. Grundsätzlich nimmt er nichts, was er in den sozialen Medien liest, für bare Münze: «In den sozialen Medien wird unsere Medienkompetenz einer besonders harten Probe unterstellt». Künstliche Intelligenz nutze er zum Brainstorming und zur Inspiration, oder wenn sie Gegenstand der Berichterstattung ist. Die Ergebnisse fliessen aber nie direkt in den Artikel. «Bei einer Suche mit Microsoft Co-Pilot oder Perplexity werden die Quellen angegeben, diese Quellenangaben verwende ich für die weitere Recherche». Eine Regulierung werde im Unternehmen zurzeit diskutiert, aber solange KI nur Mittel zum Zweck sei, benötige es sie nicht. Das journalistische Handwerk verbietet es sowieso, Information ungefiltert zu übernehmen.

Trennung von privat und beruflich nicht möglich

Grundsätzlich poste nicht er seine Texte auf Social Media, sondern die Social-Media-Redaktion über die offiziellen Unternehmensaccounts. Es ist eher eine Ausnahme, wenn er selbst einen Post verfasst. Aber alle Redakteure haben ihren eigenen Stil, einige posten mehr und diskutieren fleissig mit, andere weniger. Auf seinen persönlichen Social-Media-Accounts ist er als Privatmensch unterwegs, aber er ist sich bewusst, dass eine strikte Trennung nicht möglich sei. «Ich fechte keine internen Streite oder Debatten auf Social Media aus». Es sei auch schon vorgekommen, dass ein Text von ihm viral gegangen sei und zu Diskussionen geführt hat. Das sei aber nicht sein primäres Ziel. «Ich schreibe meine Texte nicht mit dem Hintergedanken, viral zu gehen. Das schafft man vor allem, wenn man Emotionen schürt. Ich möchte aber eher zum Denken anregen.» Über Social Media erreiche er vor allem Technologie-affine Personen, die sich gerne in Diskussionen einschalten. Fans von Open Source mit kritischer Einstellung gegenüber Tech-Konzernen erreiche man inzwischen am besten auf Mastodon. Im besten Fall bringen Diskussionen auf Social Media neue Erkenntnisse und Folgegeschichten. Selten erziele man aber Kompromisse: «Eine gemeinsame Basis habe ich in einem Konflikt in den sozialen Medien noch fast nie erreicht.»

Fachliche und sachliche Diskussionen

Aus Zeitgründen kann Matthias Schüssler nicht auf jeden Kommentar auf Social Media eingehen. «Melden sich Leute persönlich per E-Mail bei mir, antworte ich immer.» Der Ton sei in den E-Mails fast immer freundlich und das Anliegen konstruktiv formuliert. Falls nicht, antworte er sachlich und der Ton verändere sich in den Folgemails positiv. «Fachliche und sachliche Diskussionen führe ich gerne. Wenn ich aber als Sündenbock für alles herhalten muss, was den Leuten an Tamedia missfällt, lasse ich es bleiben.»

Verschiebung der Prioritäten

Unternehmen möchten ihre Botschaften stärker kontrollieren und kommunizieren immer mehr direkt mit ihrer Zielgruppe über ihre eigenen Kanäle. «Als Journalist erhalte ich immer mehr nichtssagende Statements oder werde aufgefordert, mich über ein Thema über den Unternehmensblog zu informieren.» Dies sei aber eine grundsätzliche Entwicklung und stehe nicht nur in Zusammenhang mit Social Media. Es müsse auch nicht immer die offizielle Medienstelle sein. «Ich spreche auch sehr gerne mit Corporate Influencern.» Vorausgesetzt, sie haben viel Ahnung und können mit der Rückendeckung des Unternehmens Auskunft geben.

Steckbrief

Matthias Schüssler, 53
Journalist seit 35 Jahren

Nutzt X / Twitter seit Januar 2009
Facebook seit Oktober 2008
Mastodon seit August 2018
LinkedIn seit Juni 2017
Bluesky seit August 2023
Threads seit Juli 2023
Instagram seit Mai 2011

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