Die Serie «Journalist:innen im Web» porträtiert Journalist:innen und ihren Alltag im Social Web im Rahmen einer qualitativen Studie von Bernet Relations und der ZHAW. Die Zusammenfassung und Auswertung der Studie erfolgt (bereits zum vierten Mal nach 2015, 2017 und 2019) im Frühling 2024. Der Hashtag zur Studie: #jstudie24.
Social Media sind für Joël Widmer Segen und Fluch zugleich: «Manchmal erhalte ich durch Social Media neue Einsichten, Ansätze und Meinungen.» Vor allem auch internationale Inputs – je nachdem, wem man beispielsweise auf X (Twitter) folgt. Man erhalte auch schneller Einschätzungen, Meinungen und emotionale Äusserungen von Politiker:innen. Früher musste man definitiv öfter zum Hörer greifen, um eine Einschätzung zu einem Thema zu bekommen. «Ein Fluch sind Social Media, weil man sich sehr einfach darin verlieren kann, anstatt einen Bericht oder eine Studie zu lesen oder jemanden einfach anzurufen.»
Jeder Post ein Inserat
«Social Media spielen eine wichtige Rolle zur Verbreitung unserer eigenen Texte», sagt Joël Widmer. Die Hauptstadt wurde 2021 gegründet und ist somit ein junges und wachsendes Online-Medium, das Social-Media-Kanäle aktiv als Marketing-Instrument nutzt. «Jeder neue Artikel, den wir posten, ist zugleich ein Inserat für unser Angebot.» Sie arbeiten deshalb mit einer soften Paywall: Bekommt man einen Hauptstadt-Artikel geschickt, beispielsweise über Social Media, kann man diesen spezifischen Artikel vollständig lesen. Erst danach meldet sich die Paywall. Deshalb sei es wichtig, dass die Social-Media-Verantwortliche, aber auch die Journalist:innen die Beiträge auf Social Media veröffentlichen und teilen, um deren Reichweite zu erhöhen. Da sie als junges Medium über ein begrenztes Budget verfügen, sind sie auf organischen Traffic angewiesen; auf Instagram, Facebook und LinkedIn. «Über Facebook erreichen wir eher die Masse, über LinkedIn eine kaufkräftigere Leserschaft.»
Zweifel an der Durchsetzungskraft von Bluesky
«Twitter (X) war für mich als politischen Journalisten früher sehr nützlich», sagt Joël Widmer. Es gelte abzuwarten, wie sich die Plattform entwickle. Die meisten Politiker:innen sowie grossen Institutionen seien nach wie vor auf X. «Es gibt derzeit noch keine etablierte Alternative.» Mastodon hat er noch nicht ausprobiert, dafür Bluesky. Die Plattform nehme er im Umgangston als freundlicher wahr, sie sei aufgrund der noch fehlenden Institutionen, Firmen und Politikgrössen jedoch noch nicht so meinungsführend, wie X es war. Er denkt, dass mittlerweile viele User:innen wieder abgewandert sind, weil es ihnen zu aufwändig war, alles doppelt zu posten, oder zu riskant, auf die X-Reichweite zu verzichten und nur auf Bluesky zu veröffentlichen. «Es wäre wünschenswert, dass sich Bluesky als Alternative zu X etabliert, derzeit sieht es leider noch nicht danach aus.»
Themen-Screening neu auf Linkedin
Wo man am besten Geschichten fände, sei abhängig von der Branche und vom Thema. Für politische Themen am ehesten auf X, Kulturthemen eher auf Instagram und Wirtschaftsthemen auf LinkedIn. «Ich beschäftige mich am meisten mit Politik und nutze fürs Themen- und Meinungs-Screening hauptsächlich X.» Aber mittlerweile verbreiten einige Politikschaffende wichtige Botschaften auch auf LinkedIn und Instagram.
Social Media als Teil des Geschäftsmodells
«Bei der Hauptstadt fokussieren wir auf Instagram, um potenzielle Leser:innen zu erreichen.» Ein grosser Unterschied sei, dass ihre Instagram-Follower:innen jünger sind als ihre Abonnent:innen, die eher über 55 Jahre alt sind. Wobei es sicher auch viele Überschneidungen zwischen Abonnent:innen und Follower:innen gebe. «Die grösste Frage ist, wie man die ‘Jungen’ (20–35) erreicht und auch dazu bringt, für Artikel zu bezahlen.» Er glaubt, dass ihre Abonnent:innen im Schnitt jünger als die der etablierten grossen Zeitungen sind. Auf ihrem Instagram-Kanal erreichen sie sicherlich eine noch jüngere Zielgruppe, die Inhalte jedoch lieber direkt auf der Plattform konsumiert. Instagram sei wichtig fürs Marketing und fürs Image. Die Hauptstadt achtet aber darauf, nicht zu viele Ressourcen in Social Media zu stecken, sondern konzentriert sich auf die Inhalte für zahlende Abonnent:innen.
Wegfall der Gatekeeper-Rolle der Medien
«Ich nehme wahr, dass grosse Unternehmen, aber auch Amtsstellen ihre Kommunikation generell gesamtheitlicher und teilweise auch losgelöster von den Medien gestalten», sagt Joël Widmer. Sie publizieren mehr selbst. Bei kritischen Geschichten haben sie so die Möglichkeit, nicht auf Medienfragen einzugehen, sondern direkt selbst zu publizieren. Die Macht solcher Newsrooms sei nicht zu unterschätzen – im Politbereich vielleicht noch weniger als in der Unternehmenskommunikation. Generell eröffneten Social Media und auch der Ausbau und die Professionalisierung der Kommunikationsarbeit neue Kommunikationskanäle und schwächten die Gatekeeper-Rolle der Medien.
Vor zwanzig Jahren sei es bestimmt noch einfacher gewesen, direkt mit Personen aus Unternehmen und Verwaltungen in Kontakt zu treten und Informationen zu bekommen. Das sei heute oftmals nicht mehr möglich. «Die E-Mail-Flut kombiniert mit der häufigen Bitte, Fragen vorab zu erhalten, führen dazu, dass gewisse Geschichten aufgrund von personellen Engpässen ins Wasser fallen, weil sie schlichtweg zu aufwändig werden.» Joël Widmer ist sich sicher: «Kritischer Journalismus wird im Lokalen immer schwieriger.» Das habe aber nicht unbedingt mit Social Media zu tun, sondern mit der Stärkung der Unternehmenskommunikation und dem Abbau im Journalismus.
Steckbrief
Joël Widmer, 47
Journalist seit 26 Jahren
Nutzt X / Twitter seit 2013
Facebook seit 2008
LinkedIn seit ca. 2020
Bluesky seit 2023
Instagram seit 2017