Always On, Always Kind – kein Ersatz für Beziehung

Drei Uhr morgens. Gedankenkarrussell. Es ist dunkel, kein Mensch ist erreichbar – ChatGPT schon. Ein paar Sätze später wirkt alles ein bisschen sortierter und ruhiger. Generative KI als nächtliche Beruhigungspille? Vielleicht. Oder ein Spiegel dessen, wonach wir uns sehnen, auch in unserer Kommunikation: Zugewandtheit, Struktur, Wohlwollen.
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Neulich bin ich – bekennende Infografik-Nerdin – über einen Chart vom Harvard Business Review (HBR) gestolpert. Er zeigt, wie sich die Nutzung von generativer KI innerhalb eines Jahres verändert hat. Wo generative KI 2024 noch vor allem für Ideenentwicklung genutzt wurde, steht ein Jahr später «Therapy & emotional companionship» – also emotionale Begleitung an der Spitze des Rankings.

Der Begriff «Therapy» ist dabei nicht eindeutig definiert er basiert laut HBR auf Selbstaussagen von Nutzer:innen. Wahrscheinlich geht es also weniger um Psychotherapie im klinischen Sinn, sondern um Formen von emotionaler Unterstützung: zuhören, begleitet reflektieren, Fragen stellen. Damit bewegt sich KI in einem Feld, das der Haltung und Sprache des Coachings nahekommt.

Top Gen AI Use Cases, Quelle Harvard Business Review

Vom Tool zum Trostspender

Fakt ist: Menschen reden mit KI. Über ihre Sorgen, über Sinnfragen, über ihr Leben. Sie lassen sich von Chatbots trösten und setzen Hoffnung in deren Antworten. Auch die nächsten Plätze im Ranking zeigen denselben Trend: Lebensorganisation, Sinnfindung, also Bereiche, in denen es um Orientierung und Selbstverständnis geht, nicht um Effizienz.

Ich frage mich: Wie ist das einzuordnen? Dass generative KI in so kurzer Zeit zu einem emotionalen Begleiter geworden ist, sagt weniger über Technologie aus als über uns als Gesellschaft. Über überfüllte Wartelisten, überlastete Versorgungssysteme und ein wachsendes Gefühl der Einsamkeit in einer supervernetzten Welt. Und eben über unser menschliches Bedürfnis, nach Zugewandtheit und nach Sprache, die Klarheit schenkt.

Genau das ist vielleicht die eigentliche Aufgabe für uns Kommunikationsexpert:innen: Diese Sehnsucht ernst zu nehmen – und in unserer Arbeit wieder mehr Raum für Menschlichkeit zu schaffen.

Ich verstehe, warum Menschen nachts um drei mit Chatbots sprechen. Die KI ist immer erreichbar. Immer wohlwollend. Sie urteilt nicht, sie antwortet ruhig, sie strukturiert Gedanken. Und manchmal ist es genau das, was wir in dem Moment brauchen. Wer sich auf solche Gespräche einlässt, teilt dabei oft mehr, als ihm bewusst ist. Daten, Emotionen, manchmal sehr Persönliches – alles wird irgendwo verarbeitet, gespeichert, trainiert. (Aber das ist ein weiteres Thema für einen eigenen Text.)

Als systemische Coachin mit Psychologie-Background sind mir beide Seiten vertraut: die des Coachs und die des Coachees. Aus Neugier habe ich KI-Coaching-Bots selbst getestet, mit einem realen Anliegen. Es war strukturiert, freundlich, hat die eine oder andere kluge Frage gestellt – und blieb austauschbar. Es hat mich nicht im Ansatz so weitergebracht wie eine Begegnung mit einem Menschen.

Neues Gleichgewicht in Sicht?

Bei allem technologischen Fortschritt ist meine Überzeugung, dass KI ein hilfreicher Anfang ist, aber noch kein Ersatz. Sie kann Räume öffnen für Selbstreflexion, für Sortierung, vielleicht sogar für kleine Breakthrough-Momente. Aber sie kennt kein Mitgefühl, keine Intuition, keine Resonanz. Sie kann keine Beziehung tragen. Und entscheidend für echte Entwicklung und Transformation ist eben genau das: Beziehung. Zu einem Menschen. Ein Gegenüber, das uns dort sanft, aber bestimmt «challenged», wo es nötig ist. Jemand, der uns Perspektivenwechsel zumutet und blinde Flecken spiegelt. Und auch mal unbequeme Fragen stellt. KI tut das in der Regel (noch) nicht – es sei denn, man fordert sie explizit dazu auf.

Vielleicht stehen wir an einem ähnlichen Punkt wie nach der Corona-Pandemie. Damals haben wir gelernt, dass remote und Präsenz sich nicht ausschliessen, sondern ergänzen können. Genauso könnte es sich zwischen KI und menschlicher Begleitung einpendeln. Beides hat seinen Platz – wenn wir die Grenzen kennen.

Und was das für Kommunikationsexpert:innen bedeutet:

  • Echte Begegnungen ermöglichen: Kommunikation sollte wieder mehr Gelegenheiten schaffen, in denen Menschen sich begegnen – jenseits von Bildschirmen und automatisierten Antworten.
  • Empathie und Haltung zeigen: In Zeiten von „Always On“ zählen sie mehr denn je. Kommunikation, die menschlich und respektvoll ist, stiftet Bindung und Vertrauen– digital wie analog.
  • Sprache bewusst gestalten: Worte schaffen Wirklichkeit. Sie entscheiden, ob Kommunikation wirkt oder verpufft.

Beitragsbild von Adobe Stock

Weiterführend:

 

 

 

 

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