Buchtipp: Sprache und Sein

«Sprache öffnet uns die Welt und begrenzt sie – im gleichen Moment.» Kübra Gümüşay erinnert daran, dass die Macht der Sprachnutzung – im individuellen und politischen Kontext – so viel mehr ist als nur Gendersternchen. Sie versteht Sprache als Existenzraum. Als Grenze des Seins. Als Befreiung.
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Die Autorin Kübra Gümüşay liefert auf knapp 200 Seiten eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Macht der Worte und der Entscheidung, wovon gesprochen wird.

Sprache oder Wahrnehmung – das Huhn oder das Ei?

Was war zuerst da? Sehen wir nur, was wir benennen können? Wie beeinflussen die Wörter, die wir kennen, die Realität, die wir denken? Die Pirahã, ein indigenes Volk aus dem Amazonas, kennt beispielsweise keine Vergangenheit. Die Inexistenz der grammatikalischen Zeitform hat zur Folge, dass ausschliesslich über das gesprochen wird, was unmittelbar mit dem Augenblick des Sprechens zu tun hat. Gibt es ein kollektives Gedächtnis, wenn es keine Überlieferungen unserer Geschichte gibt? Wäre unsere Kultur minderwertig, wenn wir mehr im Moment statt in Erinnerungen leben würden? Existiert etwas, das wir nicht verbalisieren können, überhaupt oder erfordert es explizite Begriffe?

Menschen mitmeinen

Ein Vater und sein Sohn haben einen Autounfall. Der Vater stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Sein Sohn muss dringend operiert werden. Der diensthabende Chirurg erblasst bei seinem Anblick und sagt: «Ich kann ihn nicht operieren – er ist mein Sohn!». Wer ist diese Person? Es ist die Mutter. So viel zum generischen Maskulinum. Tief verankert in der deutschen Sprache ist «der männliche Standpunkt als neutral universalisiert».

  • Gümüşay konfrontiert uns in ihrem Buch damit, wie arbiträr Sichtweisen auf die Welt sind. Sie plädiert für Demut und lädt dazu ein, uns von den Grenzen der eigenen Sprache zu befreien.
  • Dazu braucht es eine vielseitige Betrachtung der «Wechselbeziehungen zwischen Sprache und politischer Unmenschlichkeit», welche in diesem Buch – jenseits des radikalen Lagerdenkens und populärer Debatten – geliefert wird.

Das Tor zur Welt

Wer sind wir in den verschiedenen Sprachen, die wir sprechen? Welchen Fremdsprachen wird welcher Wert beigemessen? Welche «kolonialen Prestigesprachen» kommen in den CV? Welche klassifizieren uns als Ausländer:innen? Wann verbindet uns Sprache mit fremden Menschen und Ländern, eröffnet den Zugang zu allem bisher festgehaltenen Wissen der Weltgeschichte? Und wann führt unser Akzent dazu, dass unsere Integration oder Intelligenz in Frage gestellt werden?

Wenn Fremde anfangen zu sprechen

Wann ist die Sprache Machtinstrument, um uns als Typus zu markieren? «Wenn ich, eine sichtbare Muslimin, bei Rot über die Strasse gehe, dann missachtet gemeinsam mit mir eine ganze Weltreligion die Verkehrsregeln», schreibt Gümüşay, um die Logik vieler medialer Berichterstattungen zu veranschaulichen. Individuen repräsentieren eine Kategorie. Homogenisiert und reduziert auf ein Attribut. Der Geflüchtete. Der Homosexuelle. Der alte weisse Mann.

Das wird man wohl noch sagen dürfen

Die Hegemonien unserer Gesellschaft zeigen sich darin, wem das Privileg der Autorität zugesprochen wird, Menschen zu benennen und zu pauschalisieren. Es irritiert, wenn diejenigen, von denen die Mehrheit spricht, selbst anfangen zu sprechen. Toleriert werden ihre Diskursbeiträge lediglich als Vertreter:innen ihrer Gruppe, bitte nicht zu laut und nur zu vorgebenden Themen. Aber wozu wirklich? Verständnis? Kontroverse? Diskriminierung? Werden sie gefragt oder befragt? Nicht durch das abstrahierte Erklären ihres Daseins, sondern durch das Erzählen von Geschichten nach ihrem Belieben, werden die schemenhaften «Andern» als Persönlichkeiten erkennbar.

Sprache und Sein ist ein Plädoyer fürs freie Sprechen und für eine bewusste Nutzung dieses allgegenwärtigen Werkzeugs zum menschlichen Austausch. Gerade weil unsere Aufmerksamkeit und Energie für die Auseinandersetzung mit Sprache knapp sind, sollten wir unsere Worte und Themen bedacht wählen.

  • Kein Fazit: Kübra Gümüşays Buch liefert keine abschliessenden Antworten, sondern regt dazu an, Subjektivität, Komplexität und Ambiguität auszuhalten. Weil unser genormter Absolutheitsglaube gesellschaftsrelevante Dialoge sowie Narrative aus verschiedenen Perspektiven verunmöglicht.

«Sprache und Sein»

von Kübra Gümüşay
ISBN 978-3-442-77125-7
Erhältlich bei orellfuessli.ch

Weiterführend:

Foto von Lilly Rum auf Unsplash.

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