Journalisten im Web: Boris Gygax, freier Journalist

Boris Gygax verbrachte als freier Journalist bis Anfang 2019 drei Jahre in Shanghai. Nützlich waren bei seiner Arbeit in China nur jene Social Media, die er eigentlich nicht hätte nutzen dürfen.
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Die Serie «Journalisten im Web» portraitiert Redaktorinnen und Redaktoren und ihren Alltag im Social Web im Rahmen einer qualitativen Studie von Bernet Relations und der ZHAW. Die Zusammenfassung und Auswertung der Studie erfolgt (bereits zum dritten Mal nach 2015 und 2017) im Herbst 2019. Der Hashtag zur Studie: #jstudie19. 

Tweets im luftleeren Raum
«So trivial das in der Schweiz klingen mag: Das Stimmungsbild in China zu erfassen, ist ziemlich schwierig», sagt Boris Gygax und umschreibt damit, wie er Twitter während seiner drei Jahre als Journalist in Shanghai genutzt hat. Der Kurznachrichtendienst sei für ihn eine Absicherung gewesen. Mit ihm konnte er zu einem gewissen Grad bestätigen, ob andere Journalisten das Gleiche wahrgenommen haben, wie er. Das sei bei Recherchen im Reich der Mitte unabdingbar: «Als Journalist befindet man sich in China im luftleeren Raum. Auf eine gewisse Art herrscht Faktenlosigkeit, weil die Propaganda alles verfälscht. Ein Twitter-Schwarm aus Korrespondenten und Journalisten half mir jeweils, Ereignisse einzuordnen.» Chinesische Medien berichten nur so über Ereignisse, dass es der Partei nütze. Sie verbreiten Unwahrheiten mit einer grossen Selbstverständlichkeit. «Es ist haarsträubend für uns, dass man einfach behaupten kann: ‹Schwarz ist Weiss›. Die meisten Leute in China glauben das, weil sie keine anderen Informationsquellen haben», betont Boris Gygax.

What about WeChat?
Statistiken und Fakten von den chinesischen Behörden sind oft frisiert. Darum kann man sich als Journalist nicht darauf verlassen. Verstrickungen zwischen Unternehmen, Institutionen und dem Staat sind so eng, dass man bei jedem Interviewpartner zuerst überprüfen muss, wie nahe er der kommunistischen Partei steht. Aussagen könne man nie für bare Münze nehmen. Für jede Story finde man fünf dekorierte Experten, die alle etwas anderes behaupten: «Verglichen mit der Schweiz haben Social Media bei meiner Arbeit in China deshalb einen viel wichtigeren Stellenwert eingenommen.» Twitter könne man zwar zur Absicherung nutzen, sich aber auf keinen Fall nur auf Tweets stützen: «Es ist zu unzuverlässig, um daraus zu zitieren.» In der Recherche habe er Twitter aber genutzt, um an Kontakte zu gelangen. Weil der Staat den Kurznachrichtendienst sperrt, musste er einen VPN-Dienst nutzen. Chinesische Social Media wie WeChat habe er nur für private Zwecke genutzt, ganz bewusst nicht für Recherchen: «Es wäre dumm, WeChat zu Recherchezwecken zu nutzen. Man bringt Leute in Gefahr, wenn man mit ihnen über überwachte Dienste kommuniziert.» Eine kleine Rolle habe laut Boris Gygax auch Instagram gespielt: «Man kann an Geschichten kommen, wenn man in die Account-Description schreibt, dass man Journalist in China ist.»

Unerwünschte Eigendynamik
Es war nicht Boris Gygax’ Ziel, dass seine Geschichten auf Social Media besonders viel Reichweite erzeugen. «Unsere Aufgabe war es, über das politische Geschehen in China zu berichten. Das gab genug zu tun. Die Aufmerksamkeit wollten wir in der Schweiz, nicht in China – dort bleibt man am besten unter dem Radar.» Bei der Verbreitung via Social Media mussten sie deshalb während heiklen Recherchen vorsichtig sein. Trotzdem kam es vor, dass ihre Berichte die Behörden auf den Plan riefen. «Als wir für die Rundschau einen Beitrag über das Social-Credit-System in China gemacht haben, hat das zunächst kaum Wellen geschlagen. Einige Zeit später haben uns plötzlich die chinesischen Behörden kontaktiert. Jemand hatte den Film auf Youtube geladen, wo er auf viel Interesse gestossen ist.» Es komme vor, dass ein Bericht im ersten Moment wenig auslöse, und erst später in den Wirren des Internets eine Eigendynamik entwickle und für Aufsehen sorge.

Kein Marktschreier
Sich als Journalist Social Media zu verweigern, findet Boris Gygax dumm und ignorant. «Viele Journalisten – und da schliesse ich mich mit ein – haben sich noch gar nicht überlegt, welche Chancen einem die sozialen Netzwerke bieten» gibt er sich kritisch. Als Journalist könne man Tiefgründigkeit und Gründlichkeit nur schwer mit der Oberflächlichkeit von Social Media vereinbaren. Ihm sei es wichtig, mit seiner Arbeit zu überzeugen, nicht nur mit Präsenz: «Privat habe ich kein ausgeprägtes Sendebewusstsein. Ich habe Mühe damit, dass die lautesten Journalisten am meisten Aufmerksamkeit erhalten.» Für ihn sei es befremdlich, dass man auf Twitter dem Lautesten zuzuhören scheint. Nicht nur deshalb habe er in China seine Energie lieber in Artikel mit grosser Auflage gesteckt: «Ich war nur drei Jahre Shanghai. Es gibt Journalisten, die arbeiten seit 20 Jahren dort. Ich hätte mich sehr wichtig genommen, wenn ich mich immerzu geäussert hätte.» Zudem wäre es schlicht ungeschickt gewesen, sich zu gewissen Dingen zu äussern, weil er damit die Aufmerksamkeit der Überwachungsbehörden auf sich gelenkt hätte. «Wir haben beispielsweise für das RTS über das Uiguren-Problem in der Region Xinjiang gedreht. Es wäre dumm gewesen, einen Tweet im Stile von ‹Ich bin jetzt gerade in Ürümqi und schon das dritte Mal verhaftet worden›, abzusetzen. Dadurch, dass ich recherchiert und den Beitrag gedreht habe, konnte ich viel mehr Leuten zeigen, was dort passiert.» Seine bescheidenen Followerzahlen habe er genutzt, um produzierte Beiträge zu verbreiten – nicht zuletzt aus persönlichen Gründen: «So konnten Freunde und Verwandte sehen, was ich in China überhaupt mache.»

Steckbrief
Boris Gygax, 33
Journalist seit 2009
Auf Facebook seit ca. 2004
Auf Twitter seit 2013
Auf Instagram seit 2015

Weiterführend

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