Zuhören, nicht abkanzeln

«Cancel Culture» - ein Begriff, der seine Anfänge in den USA hat und sich zusehends auch in unseren Breitengraden wiederfindet. Ein Einordnungsversuch.
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Was haben die Kolumne einer deutschen Autorin und eine Insta-Story der Influencerin Mimi Jäger gemeinsam? Beide standen vor kurzem im Kreuzfeuer der Kritik. Aber nicht nur das. Sie sind aktuelle Beispiele für das vielfach diskutierte Phänomen der «Cancel Culture». Doch der Reihe nach. Was versteht man unter dem Begriff? Und was passiert da genau?

Der Versuch einer Einordnung

Die Schwierigkeit liegt schon bei der deutschen Übersetzung. «To cancel» bedeutet so viel wie «etwas abbrechen, etwas kündigen, etwas ausradieren». Eine befriedigende Einordnung des Begriffs zu finden, fällt schwer. Die Diskussion darüber nahm ihren Anfang in den USA, mittlerweile beherrscht sie auch die hiesigen Medien. Ein Versuch: Bei «Cancel Culture» handelt sich um den systematischen Boykott von Organisationen oder Personen, denen beleidigende und/oder diskriminierende Handlungen vorgeworfen werden.

Im Fall von Mimi Jäger war dies eine ungeschickte Bemerkung zu den Black-Lives-Matter-Demonstrationen in der Zürcher Innenstadt, die ihren Einkaufsnachmittag verunmöglichten. Innert Kürze führten Reaktionen auf den Sozialen Kanälen dazu, dass sich verschiedene Unternehmen, welche Jäger als Influencerin engagierten, von ihr distanzierten. Jäger war gecancelled.

In der Zwischenzeit fanden klärende Gespräche zwischen Jäger und ihren Partner statt. Dennoch: Die Debatte darüber, wer was wann noch sagen darf, ist im vollen Gange. Und mit ihr die Frage, wie sich «Cancel Culture» auf unsere Kommunikationskultur auswirkt.

Wie steht es um die Meinungsfreiheit?

Es gibt viele Lager und Facetten in dieser Thematik. Und zwar auf allen politischen Ebenen. Die einen sehen die Meinungsfreiheit in Gefahr, wenn politische Korrektheit eingefordert wird und setzen «Cancel Culture» mit dem Verlust der Meinungsfreiheit gleich. Andere möchten verhindern, dass nicht jeder alles, was ihn gerade beschäftigt, auf seinen sozialen Kanälen teilt.

Klar ist, unser medialer Umgang hat sich im Zuge der Digitalisierung stark verändert und mit ihm die Halbwertszeit einer gemachten Äusserung. In der modernen Aufmerksamkeitsökonomie rechnen wir in Anzahl Clicks, welcher jede einzelne Medienbeitrag erreicht. Dies führt unweigerlich zu Veränderungen in unserem Denken und kommunikativen Verhalten. Aufmerksamkeit erreichen das Emotionale, Extreme, der Konflikt.

Dies widerspiegelt sich auch bei der «Cancel Culture»-Diskussion: Immer wieder geht es weniger um den Inhalt eines Diskurses, sondern um die schiere Selbstinszenierung. Dann werden Äusserungen an Äusserungen gereiht. Es wird auf seine Meinung gepocht. Der Diskurs bleibt aus. Der Erkenntnisgewinn ebenso.

Erfahrungswelten berücksichtigen

Klar ist aber auch: Wir leben in einer Welt, in welcher der offen geführte Diskurs in der ganzen Gesellschaft angekommen ist. Dabei treffen verschiedene Erfahrungswelten aufeinander: zwischen Menschen, die in ihrem Leben noch nie oder selten diskriminierende Momente erlebt haben, und solchen, die das sehr wohl und oft erleben.

Diesem Umstand gilt es in Hinblick auf den Umgang mit «Cancel Culture» Rechnung zu tragen: Der Schwächere weist auf seine Verletztheit hin und bringt den Stärkeren zum Schweigen. Es geht darum, Betroffenheit zu zeigen, Verständnis für das Gegenüber aufzubringen und Veränderungen anzutreiben.

Ein Plädoyer für das Zuhören

Ein Fazitversuch: Ein Wandel in der Gesellschaft braucht Zeit – aber vor allem einen Diskurs. Gerade in unserem politischen System, das auf einer aktiven Partizipation basiert. Jeder Mensch hat eine Geschichte, eine persönliche Sichtweise. Es geht um bewusstes Zuhören. Ein gesellschaftlicher Diskurs setzt die Bereitschaft voraus, aufeinander zuzugehen. Nicht darauf, auf seine Meinung zu pochen, sondern einander zuhören, über das Gesagte des Gegenübers zu reflektieren, und dann erst zu reagieren.

 Titelbild: Scott Umstattd on Unsplash
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