TikTok: Zwischen Hakenkreuz, Djihad und Schminktipps

In den 90er Jahren hat man lautstark protestiert, wenn in der Agglo glatzköpfige Neonazis ihre selbstgebrannten CDs auf dem Pausenhof verteilten. Heute werden Millionen Kinder und junge Menschen täglich mit antisemitischen oder djihadistischen Filmchen bestrahlt und wir schauen schweigend weg. TikTok hat allein in der Schweiz 2.2. Mio User. Wegschauen ist grobfahrlässig und eine Gefahr für unsere Gesellschaft.
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Die Bildungsstätte Anne Frank hat Anfang Februar 2024 einen aufrüttelnden Bericht darüber publiziert, wie im Kontext des Nahost-Konflikts die massenhafte Verbreitung von Terrorpropaganda und Antisemitismus zu einer regelrechten ‘TikTok-Intifada’ geführt habe. Während deutsche Leitmedien berichteten, wurde dies in der Schweiz kaum aufgenommen. Im Zuge nachrichtendienstlicher Überwachung und kürzlicher Verhaftungen von Schweizer Teens greift der Tagesanzeiger heute die Problematik zunehmender Radikalisierung und terroristischer Rekrutierung über TikTok im Schweizer Kontext auf. Auch von heimatlichen Rechtsextremisten wird TikTok aktiv zur Vernetzung und Propaganda genutzt. Warum besonders dieses soziale Netzwerk anfällig ist, zeigt sich am Algorithmus und an der fehlenden Kontroll-Möglichkeit westlicher Staaten.

Algorithmische Radikalisierung

«Nach wie vor funktioniert politische Kommunikation im Netz über das Schema algorithmischer Radikalisierung», so die Bildungsstätte Anne Frank. TikTok erkennt – wie auch andere Social Media Plattformen – die politischen und inhaltlichen Vorlieben der Nutzenden, verstärkt diese und versorgt sie mit immer radikaleren Inhalten. Der TikTok-Algorithmus unterscheidet sich aber in wichtigen Punkten von anderen klassischen Netzwerken. Während Insta, Facebook und Twitter Content ‘befreundeter’ oder ‘gefolgter’ Accounts in der Ansicht priorisieren, setzt der Algorithmus bei TikTok darauf, dem User eine hyper-personalisierte Video-Kollektion zu zeigen. Tatsächlich landet man innert kürzester Zeit in einem ‘Rabbit Hole’. Kids und junge Menschen konsumieren also nach extrem kurzer Zeit – Minuten, nicht Tage – primär und konzentriert Content zu #Suicide, #FreePalestine oder #WhitePower. Ein Flut emotionalisierter, niederschwelliger, personalisierter (und grösstenteils unqualifizierter) Meinungsbeiträge. Wer beim Zucker oder Fentanyl Handlungsbedarf erkennt, sollte TikTok im Auge behalten.

Medien-Nutzungsverhalten

Um die Medienkompetenz der jungen Schweizerinnen und Schweizer steht es schlecht, wie auch Jugend & Medien feststellt. Sorgen machen muss uns hier neben der Mediennutzung auch die Nachrichtenkompetenz zur Meinungsbildung (und zwar nicht nur bei jungen Menschen). Gab es in der gedruckten Zeitung bei spannenden oder umstrittenen Themen von Journalisten kuratierte Inhalte (recherchierte Hintergrundartikel, Kommentar der Chefredaktion, Experteneinschätzung, Pro-/Kontra-Meinungsbeitrag) existiert diese ‘Doppelseite’ differenzierter Auseinandersetzung im digitalen Zeitalter nicht mehr. Man erhält diese Breite noch durch aktive, zeitintensive und kompetenzbasierte Auseinandersetzung mit vielen Medienquellen. Das machen nur wenige. Und mit TikTok als Nachrichtenquelle schon gar nicht.

@bsannefrank

Antisemitisches und rechtes Gedankengut werden auf TikTok häufig in Chiffren verpackt, die nicht so leicht zu entschlüsseln sind. Welchen Kommentare sind dir schon mal aufgefallen? Mit @Leonie Schöler | Historikerin #GemeinsamGegenAntisemitismus #SafeAufTikTok #ErzählDeineGeschichte

♬ Originalton – Bildungsstätte Anne Frank

Versucht auf TikTok junge Menschen zu Antisemitismus aufzuklären.

 

Tatsächlich hat dies neben gesundheitlichen Aspekten vor kurzem eine Debatte entflammt, was die Regulierung von Social Media bei Jungen betrifft – Verbot, Altersbeschränkung u.w. stehen im Raum. TikTok ist jedoch nicht mehr nur im Kinderzimmer. In den letzten Jahren ist die Schweizer TikTok-Community auf heute 2,2 Millionen Nutzer pro Monat angestiegen.

Mehr Moderation, weniger Anonymität

Wer in den letzten Jahren auf Instagram, Twitter und TikTok aktiv war, hat es miterlebt: Heere anonymer User und Bots fluten soziale Netzwerke und Kommentarspalten, um spontan oder organisiert Desinformation zu betreiben. Das Tempo der Verbreitung macht Gegeninformationskampagnen zur Sisyphusarbeit. Der Abbau von Qualitätssicherung und Moderation in sozialen Netzwerken wie Twitter hat zu einem massiven Anstieg an Fake News geführt. Idealer Nährboden, um auch auf anderen Plattformen den Informationskrieg zu führen, wie Recherchen zu Russland in Deutschland oder Russland, China und Iran im Nahost-Konflikt zeigen. Hier braucht es eine Verpflichtung der Netzwerke zur Content Moderation und zur Eindämmung von Desinformation über rechtliche Bestimmungen.

Datenfluss nach China

Die weitere Eskalationsstufe sehen wir aktuell in den USA. Das Repräsentatenhaus hat mit unüblichen 352 zu 65 Stimmen dem ‘Protecting Americans from Foreign Adversary Controlled Applications’-Gesetz zugestimmt. Es soll verhindern, dass TikTok Daten zu Spionage- und Infokriegs-Zwecken nach China übermittelt. TikTok gehört dem chinesischen Technologiekonzern Bytedance, der als einer der ersten von der Kommunistischen Partei auf Linie gebracht wurde, wodurch auch von der Tiktok-App gesammelte sensible Daten nach China gelangten. So musste beispielsweise im Dezember 2022 Bytedance zugeben, dass Mitarbeiter in den USA und China unter anderem die Bewegungsdaten von Journalisten ausspionierten, die über die Firma berichtet hatten. Sollten sich Bytedance und China nicht zu einem Verkauf umentscheiden, läuft es auf ein faktisches US-Verbot der Plattform aus.

Und die Schweiz?

Das Nationale Testinstitut für Cybersicherheit NTC hat letztes Jahr auf Anregung des Nationalen Zentrums für Cybersicherheit (NCSC) die TikTok-App auf technische Sicherheit überprüft. Der Schutz vor Manipulation, Desinformation und Zensur und politischer Meinungsbeeinflussung durch ausländische Akteure wurde jedoch nicht analysiert. In einer Zeit, in welcher der bewaffnete globale Kampf der Systeme und zunehmende Angriffe auf Freiheit und Demokratie wieder auf der Tagesordnung stehen, wäre es grobfahrlässig, TikTok als Schmink-Tipp-Plattform der GenZ und -Alpha zu betrachten. Wir stehen mitten in einem globalen Informationskrieg, der heutzutage bereits bei den Kleinen ansetzt.

Es wäre angesagt, TikTok auch in der Schweiz einer inhaltlichen sicherheitspolitischen Begutachtung zu unterziehen.

 

Mit diesem Beitrag verabschiede ich mich von euch treuen Leserinnen und Lesern. Ich ziehe weiter, bleibe der Welt der Kommunikation aber erhalten.

 

Weiterführend

Jugend & Medien: Desinformation und Nachrichtenkompetenz

EU Disinformation Lab: Disinformation on TikTok

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